Willkommenskultur

Willkommenskultur ist ein Wort, das derzeit manchem Zeitgenossen Falten auf die Stirn treibt und Streitgespräche bis in höchste Ämter verursacht. Im Kleinen funktioniert es aber irgendwie doch ganz gut. Ich habe seit gestern einen Wohngast. Für überschaubare 14 Tage. Er ist recht anspruchslos in seinem Dasein. Still steht er herum, beklagt sich weder über zu kalte oder zu warme Zimmertemperaturen, braucht auch sonst keine Zuwendung. Obwohl – ich glaube, er genießt es schon, wenn ich zärtlich über seine Oberfläche streiche. Bevor wieder einige im falschen Film landen - es handelt sich hierbei um den Esstisch meiner Nachbarin. 2.20 mal über einen Meter misst er, Vollholz, individuell angefertigt, mit 10 Schubladen – gleichmäßig auf zwei Längsseiten verteilt und sorgfältig nummeriert – innen wohlbemerkt. Schwer ist er und man sieht ihm sein Alter an – Patina nennt man das im Fachjargon. Wieso steht der Tisch bei mir, fragt sich die werte Leserschaft jetzt? Weil nebenan die Wohnung für eine Generalüberholung vom Boden bis zur Decke komplett ausgeräumt wurde.

Ich bin ja Umzüge gewohnt, kenne zumindest die Basics; trotzdem ist es spannend zu beobachten – wie andere damit umgehen. Als meine Nachbarin neulich einen fahrbaren Container mit gefühlt 100 Paar Schuhen zum Lift steuerte, um alles im Keller zwischenzulagern, fragte ich sie, ob sie im Zuge der vorübergehenden Räumung nicht gleich ausmisten wolle, staunend über Schuhmodelle, die ich da sah und die ich in der Form nicht erwartet hatte.... Sie grinste nur und meinte, das ärgste Modell wolle sie mir schenken – dann verschwand sie im Lift. Ich begriff – jeder hat so seine Leichen im Keller- im übertragenen Sinne. Es gibt in jeder Wohnung irgendwelche Dinge, von denen man sich nicht trennen kann. Das ist wie bei Kindern, die den vollkommen abgewetzten Teddy, der nur noch ein Auge hat und dem das Fell vom vielen Kuscheln schon ausging keinesfalls hergeben wollen. Da stecken Erinnerungen drin, ganze Lebensgeschichten. Ich hatte heute einen großartigen Chat mit einer anderen Freundin- auch gerade umgezogen – die mir ein Foto ihrer Schuhe im neuen Schuhschrank postete – glücklich darüber, dass diese wieder Luft atmen können im neuen Heim. Sie meinte, der Anblick ihrer zahlreichen Lieblinge in allen Farben wäre ästhetisch und würde sie an Freiheit erinnern und zahlreiche Parties mit teilweise zweifelhaftem Ausgang (der letzten Halbsatz stammt von mir). Wir umgeben uns also gern mit Dingen, die wir mögen und die uns über einen langen Zeitraum begleiten – in guten und in schlechten Tagen. Dabei ist es vollkommen egal, ob das vom Stil noch in die Wohnung passt- es gehört einfach zu unserem Leben. Ein alter Topf, ein klappriges Barwägelchen, Omas alte Stehlampe....

Was ich bisher über materielle Mitbewohner schrieb, gilt natürlich auch für die Menschen, die uns begleiten. Klar, da gibt es Mitbewohner in den eigenen vier Wänden – wechselnd oder auch nicht. Was ich jedoch ganz wichtig finde, sind erweiterte Wohnverhältnisse – also die Nachbarn. Ich bin in der glücklichen Lage, ausgesprochen liebenswerte Individualisten um mich herum wohnend zu wissen. Menschen, die offen und freundlich miteinander umgehen, die ein Auge auf die Terrassenpflanzen werfen, wenn man unterwegs ist, die Pakete annehmen und einem im Zweifelsfall zuhören, einen Witz erzählen und Kaffee kochen. Das macht good vibes, kein mieses Karma. Man hilft sich gern – teilt Werkzeug und Lebensmittel, schickt sich die besten Bilder von großartigen Sonnenuntergängen vor der Nase und genießt streitfreies Wohnen. Unter dem Tisch meiner Nachbarin steht übrigens eine Kiste Prosecco. Die hat sie mir vor einigen Tagen als Vorboten vor meine Tür gestellt mit einem Zettel: „Damit kannst Du Dir den Tisch schon mal schöntrinken!“ Die Flaschen sind noch alle ungeöffnet. Demnächst, wenn der Tisch  wieder an seinem angestammten Platz in frisch renovierter Umgebung steht, werde ich mit Freunden ein paar Gläser heben- auf die Freundschaft,  auf beste Nachbarschaftsverhältnisse – überzeugt davon: UND ALLES WIRD GUTh!